5 Fünfter Vortrag
ÜBER TRANSFINITE ZAHLEN
Meine Herren! Ich will heute über den Begriff der transfiniten
Kardinalzahl
vor Ihnen sprechen; und zwar
will ich zunächst von einem scheinbaren Widerspruch
reden, den dieser Begriff enthält. Dazu schicke ich folgendes
voraus: meiner Ansicht nach ist ein Gegenstand nur dann denkbar,
wenn er sich mit einer endlichen Anzahl von Worten definieren
läßt. Einen Gegenstand, der in diesem Sinne endlich
definierbar ist, will ich zur Abkürzung einfach
"definierbar"
nennen. Demnach ist also ein
nicht definierbarer Gegenstand auch undenkbar. Desgleichen will
ich ein Gesetz "aussagbar"
nennen, wenn es in
einer endlichen Anzahl von Worten ausgesagt werden kann.
Herr RICHARD
hat nun bewiesen, daß
die Gesamtheit der definierbaren Gegenstände abzählbar ist,
d. h. daß die Kardinalzahl dieser Gesamtheit
ist.
Der Beweis ist ganz einfach: sei
die Anzahl der
Wörter des Wörterbuches, dann kann man mit
Wörtern
höchstens
Gegenstände definieren. Läßt man
nun
über alle Grenzen wachsen, so sieht man, daß man
nie über eine abzählbare Gesamtheit hinauskommt. Die
Mächtigkeit der Menge der denkbaren Gegenstände wäre also
. Herr SCHOENFLIES
hat
gegen diesen Beweis eingewandt, daß man mit einer einzigen
Definition mehrere, ja sogar unendlich viele Gegenstände
definieren könne. Als Beispiel führt er die Definition der
konstanten Funktionen an, deren es offenbar unendlich viele
gibt. Dieser Einwand ist deshalb unzulässig, weil durch solche
Definitionen gar nicht die einzelnen Gegenstände, sondern ihre
Gesamtheit, in unserem Beispiel also die Menge der
konstanten Funktionen definiert wird, und diese ist ein einziger
Gegenstand. Der Einwand von Herrn SCHOENFLIES ist also
nicht stichhaltig.
Nun hat bekanntlich CANTOR
bewiesen,
daß das Kontinuum nicht abzählbar ist; dies widerspricht
dem Beweise von RICHARD. Es fragt sich also, welcher
von beiden Beweisen richtig ist. Ich behaupte, sie sind beide
richtig, und der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Zur
Begründung dieser Behauptung will ich einen neuen Beweis für
den CANTORschen Satz geben: Wir nehmen also an, es sei
eine Strecke
gegeben und ein Gesetz, durch welches jedem
Punkte der Strecke eine ganze Zahl zugeordnet wird. Wir wollen
der Einfachheit halber die Punkte durch die ihnen zugeordneten
Zahlen bezeichnen. Wir teilen nun unsere Strecke durch zwei
beliebige Punkte
und
in drei Teile, die wir als
Unterstrecken
. Stufe bezeichnen; diese teilen wir wieder in
je drei Teile und erhalten Unterstrecken
. Stufe; dieses
Verfahren denken wir uns ins Unendliche fortgesetzt, wobei die
Länge der Unterstrecken unter jede Grenze sinken soll. Der
Punkt
gehört nun einer oder höchstens, wenn er mit
oder
zusammenfällt, zweien der Unterstrecken erster
Stufe an, es gibt also sicher eine, der er nicht angehört. Auf
dieser suchen wir den Punkt mit der niedrigsten Nummer, die nun
mindestens
sein muß, auf. Unter den
Unterstrecken
. Stufe, die zu derjenigen Strecke
. Stufe gehören, auf
der wir uns befinden, ist nun wieder mindestens eine, der der
zuletzt betrachtete Punkt nicht angehört. Auf dieser setzen
wir das Verfahren fort und erhalten so eine Folge von Strecken,
die folgende Eigenschaften hat: jede von ihnen ist in allen
vorhergehenden enthalten, und eine Strecke
Stufe
enthält keinen der Punkte
bis
. Aus der ersten
Eigenschaft folgt, daß es mindestens einen Punkt geben
muß, der ihnen allen gemeinsam ist; aus der zweiten
Eigenschaft folgt aber, daß die Nummer dieses Punktes
größer sein muß als jede endliche Zahl, d. h. es kann
ihm keine Zahl zugeordnet werden.
Was haben wir nun zu diesem Beweise vorausgesetzt? Wir haben ein
Gesetz vorausgesetzt, das jedem Punkte der Strecke eine ganze
Zahl zuordnet. Dann konnten wir einen Punkt definieren, dem
keine ganze Zahl zugeordnet ist. In dieser Hinsicht
unterscheiden sich die verschiedenen Beweise dieses Satzes
nicht. Dazu mußte aber das Gesetz zuerst feststehen. Nach
RICHARD müßte anscheinend ein solches Gesetz
existieren, aber CANTOR hat das Gegenteil bewiesen. Wie
kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Fragen wir einmal nach der
Bedeutung des Wortes "definierbar". Wir nehmen die Tafel aller
endlichen Sätze und streichen daraus alle diejenigen, die
keinen Punkt definieren. Die Übrigbleibenden ordnen wir den
ganzen Zahlen zu. Wenn wir jetzt die Durchmusterung der Tafel
von neuem vornehmen, so wird es sich im allgemeinen zeigen,
daß wir jetzt einige Sätze stehen lassen müssen, die wir
vorher gestrichen haben. Denn die Sätze, in welchen man von
dem Zuordnungsgesetz selbst sprach, hatten früher keine
Bedeutung, da die Punkte den ganzen Zahlen noch nicht zugeordnet
waren. Diese Sätze haben jetzt eine Bedeutung, und müssen in
unserer Tafel bleiben. Würden wir jetzt ein neues
Zuordnungsgesetz aufstellen, so würde sich dieselbe
Schwierigkeit wiederholen und so ad infinitum. Hierin liegt aber
die Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen
CANTOR und RICHARD. Sei
die Menge der
ganzen Zahlen,
die Menge der nach der ersten
Durchmusterung der Tafel aller endlichen Sätze definierbaren
Punkte unserer Strecke,
das Gesetz der Zuordnung zwischen
beiden Mengen. Durch dieses Gesetz kommt eine neue Menge
von Punkten als definierbar hinzu. Zu
gehört aber
ein neues Gesetz
, dadurch entsteht eine neue Menge
usw. RICHARDs Beweis lehrt nun, daß, wo ich auch
das Verfahren abbreche, immer ein Gesetz existiert, während
CANTOR beweist, daß das Verfahren beliebig weit
fortgesetzt werden kann. Es besteht also kein Widerspruch
zwischen beiden.
Der Schein eines solchen rührt daher, daß dem
Zuordnungsgesetz von RICHARD eine Eigenschaft fehlt,
die ich mit einem von den englischen Philosophen entlehnten
Ausdruck als "prädikativ"
bezeichne.
(Bei RUSSELL,
dem ich das Wort entlehne,
ist eine Definition zweier Begriffe
und
nicht
prädikativ, wenn
in der Definition von
und umgekehrt
vorkommt.) Ich verstehe darunter folgendes: Jedes
Zuordnungsgesetz setzt eine bestimmte Klassifikation voraus. Ich
nenne nun eine Zuordnung prädikativ, wenn die zugehörige
Klassifikation prädikativ ist. Eine Klassifikation aber nenne
ich prädikativ, wenn sie durch Einführung neuer Elemente
nicht verändert wird. Dies ist aber bei der
RICHARDschen nicht der Fall, vielmehr ändert die
Einführung des Zuordnungsgesetzes die Einteilung der Sätze
in solche, die eine Bedeutung haben, und solche, die keine
haben. Was hier mit dem Wort "prädikativ" gemeint ist,
läßt sich am besten an einem Beispiel illustrieren: wenn
ich eine Menge von Gegenständen in eine Anzahl von Schachteln
einordnen soll, so kann zweierlei eintreten: entweder sind die
bereits eingeordneten Gegenstände endgültig an ihrem Platze,
oder ich muß jedesmal, wenn ich einen neuen Gegenstand
einordne, die anderen oder wenigstens einen Teil von ihnen
wieder herausnehmen. Im ersten Falle nenne ich die
Klassifikation prädikativ, im zweiten nicht. Ein gutes
Beispiel für eine nicht prädikative Definition hat
RUSSELL gegeben:
sei die kleinste ganze Zahl, deren
Definition mehr als hundert deutsche Worte erfordert.
muß existieren, da man mit hundert Worten jedenfalls nur
eine endliche Anzahl von Zahlen definieren kann. Die Definition,
die wir eben von dieser Zahl gegeben haben, enthält aber
weniger als hundert Worte. Und die Zahl
ist also
definiert als undefinierbar.
ZERMELO
hat nun gegen die Verwerfung der
nicht prädikativen Definitionen den Einwand erhoben, daß
damit auch ein großer Teil der Mathematik hinfällig
würde, z. B. der Beweis für die Existenz einer Wurzel einer
algebraischen Gleichung.
Dieser Beweis lautet bekanntlich folgendermaßen:
Gegeben ist eine Gleichung
. Man beweist nun, daß
ein Minimum haben muß; sei
einer
der Argumentwerte, für den das Minimum eintritt, also
Daraus folgt dann weiter, daß
ist. Hier ist nun
die Definition von
nicht prädikativ, denn dieser Wert
hängt ab von der Gesamtheit der Werte von
, zu denen er
selbst gehört.
Die Berechtigung dieses Einwandes kann ich nicht zugeben. Man
kann den Beweis so umformen, daß die nicht prädikative
Definition daraus verschwindet. Ich betrachte zu diesem Zwecke
die Gesamtheit der Argumente von der Form
, wo
,
,
ganze Zahlen sind. Dann kann ich dieselben
Schlüsse wie vorher ziehen, aber der Argumentwert, für den
das Minimum von
eintritt, gehört im
allgemeinen nicht zu den betrachteten. Dadurch ist der Zirkel im
Beweise vermieden. Man kann von jedem mathematischen Beweise
verlangen, daß die darin vorkommenden Definitionen usw. prädikativ sind, sonst wäre der Beweis nicht streng.
Wie steht es nun mit dem klassischen Beweise des
BERNSTEINschen
Theorems? Ist er
einwandfrei? Das Theorem sagt bekanntlich aus, daß, wenn
drei Mengen
,
,
gegeben sind, wo
in
und
in
enthalten ist, und wenn
äquivalent
ist, auch
äquivalent
sein muß. Es handelt sich also auch hier um
ein Zuordnungsgesetz. Wenn das erste Zuordnungsgesetz (zwischen
und
) prädikativ ist, so zeigt der Beweis, daß es
auch ein prädikatives Zuordnungsgesetz zwischen
und
geben muß.
Was nun die zweite transfinite Kardinalzahl
betrifft,
so bin ich nicht ganz überzeugt, daß sie existiert. Man
gelangt zu ihr durch Betrachtung der Gesamtheit der
Ordnungszahlen von der Mächtigkeit
; es ist klar,
daß diese Gesamtheit von höherer Mächtigkeit sein
muß. Es fragt sich aber, ob sie abgeschlossen ist, ob wir
also von ihrer Mächtigkeit ohne Widerspruch sprechen dürfen.
Ein aktual Unendliches gibt es jedenfalls nicht.
Was haben wir von dem berühmten Kontinuumproblem
zu halten? Kann man die Punkte des Raumes
wohlordnen? Was meinen wir damit? Es sind hier zwei Fälle
möglich: entweder behauptet man, daß das Gesetz der
Wohlordnung endlich aussagbar ist, dann ist diese Behauptung
nicht bewiesen; auch Herr ZERMELO erhebt wohl nicht den
Anspruch, eine solche Behauptung bewiesen zu haben. Oder aber
wir lassen auch die Möglichkeit zu, daß das Gesetz nicht
endlich aussagbar ist. Dann kann ich mit dieser Aussage keinen
Sinn mehr verbinden, das sind für mich nur leere Worte. Hier
liegt die Schwierigkeit. Und das ist wohl auch die Ursache für
den Streit über den fast genialen Satz ZERMELOS.
Dieser Streit ist sehr merkwürdig: die einen verwerfen das
Auswahlpostulat,
halten aber den Beweis
für richtig, die anderen nehmen das Auswahlpostulat an,
erkennen aber den Beweis nicht an.
Doch ich könnte noch manche Stunde darüber sprechen, ohne
die Frage zu lösen.
Archives Henri Poincaré, UMR 7117.
Edité le 2010-04-22 09:54:36.