Debatte um Jakob Augstein : Was im 21. Jahrhundert antisemitisch ist
09.01.2013 08:00 UhrIn einer Debatte, die zwischen Überhöhung und Ignoranz pendelt, müssen auch Selbstverständlichkeiten betont werden. Darum zunächst: Jakob Augstein ist nicht Julius Streicher. Selbst wenn er es wäre, so gelten doch heute andere Wirkungsmächtigkeiten als zu Zeiten des „Stürmers“. Amerika, Russland, England und Frankreich haben zum Glück genug Atombomben, um ein nächstes deutsches Auschwitz zu verhindern. Und vielleicht ist sogar die israelische Armee stark genug, ohne freilich die Macht der Juden überschätzen zu wollen, um es mit der Amish-Moral der Bundeswehr aufzunehmen.
Insofern müssen sich die Juden heute vor Augstein weit weniger fürchten – wenn überhaupt – als in den dreißiger Jahren vor Streicher.
Aber wer die Frage, was im 21. Jahrhundert antisemitisch ist, vorrangig in den Dimensionen von Auschwitz diskutiert, will die Debatte beenden, bevor sie begonnen hat. Soll man über aktuelle Formen der Diskriminierung von Frauen nicht reden dürfen, weil keine Hexen mehr verbrannt werden? Darf man keine Homophobie mehr beklagen, weil wir die Homo-Ehe und einen schwulen Außenminister haben? Gemessen an der Hexenverbrennung gibt es keine Frauendiskriminierung mehr. Gemessen an Streicher ist niemand ein Antisemit.
Ressentiments wandeln sich, in der Regel von plump zu subtil. Wer früher „Scheiß-Ausländer“ sagte, schwadroniert heute über „kulturelle Überfremdung“. Und das Motto des „Stürmers“, das die Zeitschrift seit 1927 auf ihrer Titelseite hatte – „Die Juden sind unser Unglück“ –, heißt in moderner Übersetzung: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ (Günter Grass). Damals wie heute werden dem Gegner zerstörerische Allmachtsfantasien unterstellt sowie die reale Fähigkeit, diese auch auszuleben. Aus „den Juden“ ist die Chiffre „Israel“ geworden, also das Land selbst, nicht etwa eine bestimmte Regierung oder Politik.