Opfer der Berliner Mauer : Erschossen, ertrunken, erstickt
13.08.2013 12:52 UhrSeine Leidenschaft galt dem Motorradsport. Doch dem konnte Rainer Liebeke in der DDR nicht so nachgehen, wie er das gewollt hätte. Als er nach einer Spritztour im BMW der Westverwandtschaft von der Stasi verhört wurde, wollte er nur noch weg. Am 3. September 1986 versuchte der damals 34-Jährige mit einem Freund durch den Sacrower See nach Westberlin zu schwimmen. Der Freund schaffte es, Rainer Liebeke blieb aufgrund einer früheren Schlüsselbeinverletzung zurück. Zwei Schüler entdeckten eine Woche später seine Leiche im See.
Sammelband gibt 46 Mauertoten ein Gesicht
Rainer Liebeke ist einer von 46 Menschen, die zwischen dem Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 und dem Mauerfall am 9. November 1989 an den Sperranlagen und Todesstreifen zwischen Berlin und dem heutigen Brandenburg ums Leben kam.
Zusammen mit den Todesopfern an den innerstädtischen Berliner Grenzanlagen kommt das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) auf mindestens 136 Opfer des Mauerregimes der DDR. Im Vorfeld des 52. Jahrestages des Mauerbaus hat nun Hans-Hermann Hertle vom ZZF zusammen mit Maria Nooke von der Stiftung Berliner Mauer einen Sammelband mit den Kurzbiografien und Todesumständen der 46 Menschen herausgegeben, die an den knapp 113 Kilometern Grenzanlagen des Außenrings ihr Leben lassen mussten.
Darunter finden sich nicht nur Flüchtlinge, die an den Grenzanlagen erschossen wurden oder ertranken (35 Opfer), sondern auch sieben Menschen aus Ost und West, die ohne Fluchtabsicht zu Tode kamen, und vier DDR-Grenzsoldaten, die während ihres Dienstes an der Mauer getötet wurden. Die Menschen, die aus Erschöpfung oder anderen Gründen während der Grenzkontrollen starben, sind in den Zahlen nicht enthalten.
Auf dem Heimweg nahe des Todesstreifens angeschossen
Immer wieder kamen an den Grenzanlagen Menschen aus Unachtsamkeit oder durch Missverständnisse zu Tode, die gar nicht im Sinn hatten, zu flüchten. So etwa der damals 23-jährige Herbert Mende, der 1962 unweit der Glienicker Brücke von Grenzposten angeschossen wurde und sechs Jahre später an den qualvollen Folgen seiner Verletzungen starb. Er war an einem Sonnabend im Juli 1962 zum Tanz im Jugendhaus „John Schehr“ unweit des Todesstreifens und der streng bewachten Glienicker Brücke gewesen. Kurz nach Mitternacht brach er auf, um den letzten Bus nach Hause zu erreichen. Als ihn eine Streife der Volkspolizei kontrollierte und zum Revier bringen lassen wollte, verstand der junge Mann offenbar nicht, dass dies einer vorläufigen Festnahme gleichkam. Als der von ihm erwartete Bus eintraf, fragte er den Volkspolizisten, ob der noch etwas von ihm wolle. Mende erhielt keine Antwort, also lief er los, um seinen Bus zu erreichen. Nach einem Warnschuss gab einer der Grenzposten gezielte Schüsse auf den jungen Mann ab und verletzte ihn schwer.
156 Kilometer Grenzanlage - eine unterschätze Gefahr
Viele der akribisch recherchierten Fälle ereigneten sich bereits in den sechziger Jahren, in den Jahren direkt nach dem Mauerbau. Offenbar war der Druck zur Flucht damals sehr groß, so ertranken in den ersten Jahren einige Flüchtlinge bei dem Versuch, im Winter durch das eiskalte Wasser zwischen dem Umland und Westberlin zu schwimmen. Und offensichtlich unterschätzten viele die Gefahr, die von den über 156 Kilometern Grenzanlagen in und um Berlin ausging. So etwa auch Lothar Hennig, der am 4. November 1975 spätabends mit dem Bus aus der Potsdamer Innenstadt nach Sacrow kam. Wie gewohnt legte er die 400 Meter zum Elternhaus im Dauerlauf zurück. Doch in dem Grenzgebiet herrschte „Flüchtlingsalarm“. Der späte Heimkehrer erschien einem der Grenzposten verdächtig. Der Posten forderte den 21-Jährigen zum Anhalten auf und gab einen Warnschuss ab. Doch Lothar Hennig lief weiter – bis der Grenzposten ihn in den Rücken schoss.
Oft erfuhren die Familien die Todesumstände ihrer Angehörigen erst nach Öffnung der DDR-Archive in den neunziger Jahren. In der internationalen Öffentlichkeit musste die DDR – vor allem in Zeiten der Entspannungspolitik – um ihren Ruf fürchten. Deshalb wurde gemeinsam mit Grenztruppen und Staatssicherheit versucht, Todesfälle, wann immer möglich, zu verheimlichen und zu verschleiern. Dafür ließ die Stasi sogar Leichname spurlos verschwinden.
Der Einfluss der Staatssicherheit auf das Grenzregime war offenbar erheblich. Ihr reichte es nicht, dass die Truppen im Grenzgebiet Kollaborateure anwarben. Ende der achtziger Jahre gab es rund 800 dieser Helfer, die Fluchtvorhaben schon im Planungsstadium erkennen und vereiteln sollten. Darauf und auf ihre Inoffiziellen Mitarbeiter in der Bevölkerung allein mochte die Stasi nicht vertrauen. Sie schleuste auch hauptamtliche Mitarbeiter in die Grenztruppen ein und gewann dort IMs, um Fahnenfluchten zu verhindern.
Grenzanlage war auch für Westberliner gefährlich
Auch für Westberliner war die Grenzanlage nicht ungefährlich. Am 15. Juni 1965 unternahm der 43-jährige Westberliner Geschäftsmann Hermann Döbler zusammen mit der 21-jährigen Elke Märtens einen Bootsausflug zwischen Wannsee und Griebnitzsee. Auf dem Teltowkanal gerieten sie unwissentlich auf Territorium der DDR. Ein Grenzposten gab gezielt Schüsse auf das Boot und seine Insassen ab. Hermann Döbler wurde viermal getroffen, er war sofort tot. Seine Begleiterin überlebte mit bleibenden gesundheitlichen Schäden.
Viele der hier beschriebenen Maueropfer kamen letztlich durch tragische Umstände ums Leben. So auch der gerade erst 15 Monate alte Holger H. Seine Eltern flüchteten mit ihm am 22. Januar 1973 in einem Lastwagen versteckt über den Kontrollpunkt Dreilinden. Als der kleine Junge bei der Kontrolle am Grenzübergang zu weinen begann, hielt die Mutter ihm den Mund zu. Sie wusste nicht, dass er wegen einer verstopften Nase nicht atmen konnte. Die Flucht war erfolgreich, doch der kleine Junge überlebte sie nicht.
Ein vielleicht letztes Opfer forderte die Mauer, nachdem sie bereits Geschichte war. Am 31. August 1990 versuchte der 14 Jahre alte Christoph-Manuel Bramböck mit einem Freund an der Mauer in Berlin-Lichtenrade zur Erinnerung Teile aus dem Bollwerk zu klopfen. Dabei löste sich eine der übereinandergesetzten Betonplatten, aus denen die Mauer am Außenring bestand. Der Junge wurde davon erschlagen.